"Lehrstellen-Legenden"

IG Metall

07.09.2004 Leserbrief an das Haller Tagblatt 2

455.000 Ausbildungsplätze
714.000 Bewerber/-innen
259.000 fehlen

Leserbrief von André Kaufmann, Jugendsekretär zum Artikel "Lehrstellen-Legenden" im Haller Tagblatt vom 04.09.04

Vielen Dank für die Aufklärung. Natürlich sind an der Ausbildungsplatzmisere die Jugendlichen selber schuld. Ebenso wie an der Erwerbslosigkeit die Erwerblosen selber schuld sind. Ist doch logisch. Die Opfer sind immer selber schuld. Zu dumm. Zu faul. Zu unflexibel. Zu anspruchsvoll.
Aber ist das wirklich so? Die Fakten sprechen eine andere Sprache!

Im Jahr 2000 hat die IG Metall eine repräsentative Umfrage unter Jugendlichen durchgeführt. Damals gaben bereits 31% der Befragten an, dass ihre Ausbildung nicht ihrem Berufswunsch entspricht. In der Zwischenzeit hat sich nichts an der katastrophalen Ausbildungsplatzsituation gebessert und diese Zahl dürfte heute noch höher liegen.

Ich habe selber fünf Jahre lang als gewerblicher Ausbilder in der Metallindustrie gearbeitet und kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie sich kurz nachdem wir freie Ausbildungsplätze annonciert hatten, auf meinem Schreibtisch die Bewerbungen "getürmt" haben. Und nicht dass alle Bewerbungen nur aus der näheren Umgebung gewesen wären. Zum Teil kamen sie von weit her; insbesondere aus der früheren DDR. Also dorther wo man den Leuten "blühende Landschaften" versprochen hat und sich jetzt darüber mokiert, dass die Menschen nach 15 Jahren "Wartezeit" langsam "ungeduldig" werden.

Das Problem sind die fehlenden Lehrstellen. Nach den jüngsten Angaben der Bundesagentur für Arbeit stehen den 455.000 betrieblichen Ausbildungsstellen (22.100 weniger als im Vorjahr) derzeit 714.000 Bewerber gegenüber. Das ergibt 259.000 fehlende Lehrstellen.

Selbst wenn sich lauter kleine (bundesweit mobile) "Einsteins" bewerben würden, bleibt von drei Jugendlichen immer noch einer "auf der Strecke". PISA hin oder her.
Im übrigen darf man sich nicht über den mangelnden Bildungsstand mancher Schüler wundern, wenn man bedenkt, dass mancherorts weil die Stadtkasse leer ist 30 oder mehr Schüler in einer Klasse hocken, der Lehrer das letzte mal vor 20 Jahren auf Fortbildung war und laufend Unterricht ausfällt. Zumindest waren das meine eigenen Erfahrungen als (Berufs-)Schüler. Es würde mich sehr wundern, wenn sich an diesen Zuständen in den letzten Jahren etwas gebessert hätte.

Das eigentlich beschämende an PISA ist nicht nur das magere Abschneiden des deutschen Durchschnittsschülers, sondern die oft und gerne verschwiegene Tatsache, dass in keinem(!), der an der PISA-Studie beteiligten Länder, die Leistungsunterschiede zwischen Schüler aus sozial "starken" und sozial "schwachen" Familien größer ist als in der BRD. Soviel zum Thema Chancengleichheit.

Eine Schlussbemerkung: Hätten wir nicht Millionen erwerbsloser Kolleginnen und Kollegen, kein Unternehmer oder selbsternannter "Bildungsexperte" würde über die angeblich zu dummen Lehrstellenbewerber diskutieren. Man würde sich um die Jugendlichen reißen und ohne Murren zusätzlichen betrieblichen Förderunterricht bzw. "ausbildungsbegleitende Hilfen" anbieten.
Aber warum denn heute noch selber ausbilden, sagen sich manche. Soll doch die Konkurrenz die Kosten für die Ausbildung tragen. Wir werben dann ab. Und wenn das nicht klappt, dann gibt's ja noch genug gut ausgebildete Erwerbslose. Dank den "Hartz-Gesetzen" und den neuen "Zumutbarkeitskriterien" sind die in Zukunft bundesweit für "nen Appel und nen Ei" zu haben.

Schöne neue Welt.

Letzte Änderung: 30.03.2011